M U S T A F A   C H A E R

 V i t a

Unsere Reise beginnt 1967 in einem Paradies – so jedenfalls erlebt der kleine Junge seine ersten Jahre in Beirut, so erlebt er seine lebendige große Familie und seine Freunde, die man sich als eine Bande kämpferischer Knöpfe vorzustellen hat, denn sie verstehen sich als Verteidiger ihres Reviers gegen die angreifenden Zwerge aus der Unterstadt. Der Wandel beginnt ganz unmerklich: Viele Palästinenser sind als Vertriebene in den Libanon und in die Stadt Beirut geströmt. Sie werden von Teilen der libanesischen Regierung abgelehnt und unterdrückt. Eine zunehmende Unruhe entwickelt sich in den Straßen, Aufmärsche und Parolen, Scharmützel hie und da, schließlich Panzer und Schüsse – eine bedrohlich näher rückende Gefahr. Allmählich erkennt das Kind: Das Spiel ist vorbei. Das Viertel ist eingekesselt. Keiner kommt mehr heraus. Jetzt wird nicht mehr mit den Zwergen aus der Unterstadt gekämpft  -  sondern da kriecht etwas anderes heran, und das macht Angst.

Da beginnt der siebenjährige Junge zu zeichnen, alles, was er sieht, hört, fühlt: Waffen und Soldaten und all das was ihn schreckt, ohne dass er es benennen kann. Er weiß noch nicht, dass es die Hölle sein wird, die er in diesen drei Jahren erlebt. Aber als er zehn Jahre alt ist, da kennt er die Hölle, und sie ist weitaus grauenvoller, als wir sie uns vorstellen können. Das Ungeheuer, das sich Krieg nennt, reißt das Land in eine langjährige Barbarei. Der Dämon zeigt seine Fratze, aber was für das Kind das Schlimmste ist: diese entsetzliche Fratze ist immer auch das Gesicht eines Menschen,  - eines Menschen, der töten will, weil er besinnungslos hasst. Man jagt schließlich die verhungernde Familie auf bloßen Füßen aus den Trümmern und Bombenkellern und treibt sie aus der Stadt in den Süden, wo sie jahrelang auf der Flucht umherzieht. Ihre Toten bleiben zurück –  aber die Bilder kann keiner zurücklassen. Sie wandern mit, eingebrannt in die Augen des Kindes, wandern an all die vielen Orte, die seine Füße berühren und die von nun an über lange Zeit Fluchtorte sein werden, manchmal Zufluchtsorte, aber nie mehr sicher. Aus dem Paradies ist es für immer vertrieben. 

Aus diesem geronnenen Entsetzen sind dann viel später Bilder entstanden. Denn da ist zuerst das Kind, das im Libanon zwei Welten erlebt – das Paradies und die Hölle. Es wird, auf seiner nächsten Reisestation erneut zwei Welten begegnen. Die Familie entscheidet sich angesichts der wachsenden Todesgefahr zur Emigration. Mit zehn Jahren findet sich der Junge mit seinen Angehörigen in Deutschland wieder. Die Stille, in die sie nun plötzlich geworfen sind, ist  - nach dem unablässigen Gefechtslärm der vorherigen Jahre –   erschreckend. Es ist wieder ein Leben in zwei Welten, in zwei Kulturen und zwei Sprachen,  ein Leben fortwährender Wanderschaft, stets von der Abschiebung bedroht. Aus diesem Zwiespalt erwächst für den Jungen eine Sehnsucht, die von da an sein Handeln lenkt: der Wunsch, in dieser unsicheren und unbeständigen Welt etwas zu schaffen, das Bestand hat, das überdauert und damit der Zerstörung durch Mensch und Zeit widersteht.

Entscheidend wird ein Schulerlebnis. Lehrer und Mitschüler entdecken, dass der fremde Junge ein besonderes Talent hat: Er kann malen, und das viel besser als sie alle. Er bekommt eine neue Orientierung, die von nun an sein Leben prägen wird, vor allem durch die klärende Kraft, die von diesem Talent ausgeht. Jetzt erst beginnen sich die eingebrannten Bilder ans Licht zu drängen, quälend und unabweisbar, und er beginnt schließlich diesem elementaren Bedürfnis nachzugeben.

Das sind zunächst aber – da  er nach der Schule eine berufliche Orientierung außerhalb der Kunst suchen soll – eher Versuche im Bereich der Gebrauchsgraphik: Plakate, Comics, Illustrationen. Bis er merkt, das ist nicht sein Weg. Er muss eine andere Spur finden. Und dann -  in einem beständigen Kampf mit den Forderungen einer realen, auf Berufsausbildung und Profit ausgerichteten Umgebung  - entstehen ab etwa 1991 bis 1994  die surrealen Bilder, die sich nicht mehr abweisen lassen. Mustafa Chaer malt, weil er nicht mehr anders kann. Er lässt das wachsen, was ans Licht will, er träumt seine Bilder in einem hellen Bewusstsein und durchlebt dabei erneut die Alpträume, die sein Leben so viele Jahre traumatisch geprägt haben.

Die Arbeit wird so unbeabsichtigt zu einem Akt der Selbstheilung – Heilung nicht in dem Sinne, dass das Schreckliche verschwindet, sondern als ein inneres Heilwerden und Zurückfinden zu einer Ganzheit, die in der Hölle verloren gegangen war. Zugleich aber sind diese Bilder auch eine Antwort an die Welt, in der genau diese Alpträume unablässig weitergehen und die Bestie Mensch das Unvorstellbare vollzieht. 

Vielleicht musste erst diese heillose, aber heilende Arbeit getan werden, bevor dann zwischen 1994 und 1998 eine neue Phase einsetzt. In dieser Zeit  wendet sich Mustafas Aufmerksamkeit dem Menschen auf eine neue Weise zu. Anstatt  ihn in seiner oftmals knöchernen Zerbrechlichkeit und ohne schützende Hülle zu zeigen, entstehen jetzt zahlreiche Akte, die das Individuum aus seiner inneren Würde heraus gestalten und dem Körper seine Schönheit zurückgeben. Parallel dazu erarbeitet er Bilder futuristischer Prägung, metallisch umhüllte Körper, die biomechanischen Gesetzen zu folgen scheinen. Daneben aber gestaltet er formlos Abstraktes und – wieder nach der dualistischen Gesetzlichkeit seines Lebensmusters – präzisen Realismus in strenger  Konsequenz.

Das Jahr 1998 ist das Jahr, in dem er sich endgültig für seine Existenz als Künstler entschieden hat,  und dies in vielfältigsten Gestaltungsformen verwirklicht. Er arbeitet an Skulpturen, schreibt Lyrik, komponiert – aber im Mittelpunkt steht nach wie vor die Malerei.

Hier lässt sich nun eine entscheidende Wandlung wahrnehmen. Das, was hier entsteht, entzieht sich nämlich dem bisherigen Muster des Ausdrucks. Die Bindung an die Wirklichkeit bleibt, aber sie öffnet sich über andere Augen. Die Bilder wollen nicht nur spiegeln, sondern eine Antwort geben auf das, was geschehen ist und noch geschieht: Leid, Verzweiflung, Sinnlosigkeit werden aufgenommen in einem Prozess der Versöhnung. Es entstehen Bilder von innerer Kraft, tiefer und zugleich dynamischer Stille in einer neuen und hellen Farbgebung, die ganz bewusst das Licht der Gestirne einbezieht. Vielleicht sind sie hier mit ihrem Leuchten Symbole einer  Beständigkeit, die es sonst in dieser wirren Welt nicht gibt. 

Dass diese Beständigkeit zugleich den Raum öffnet für eine erhebliche Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten, darauf mag das große Spektrum an Techniken und Mischtechniken mit der Lust an Variation hinweisen, die wir in seinem vielfältigen Werk finden. Mustafa Chaer hat dazu einmal folgendes geschrieben: „Die Herausforderung, das Leben in seiner ganzen Vielfalt zu reflektieren anzunehmen, bedeutet für mich, ebenso vielseitig und so spontan wie das Leben selbst zu sein."  

Als Mensch, dem die arabische Kunst und Kultur auch im Exil ein kostbares Erbe und lebendige Wirklichkeit zugleich bedeuten, nutzt er die Chance, über das Malen kollektiven Ängsten zu begegnen und Hoffnung zu vermitteln. Denn Kunst und Schönheit sind seit jeher ein einigendes Element zwischen allen Kulturen und Völkern. So entstand der Plan, über die Kunst Menschen Begegnungen zu ermöglichen, die sich auch als Brückenschlag zwischen den Kulturen verstehen. Seine Arbeit  ist künstlerischer und sozialer Prozess zugleich, in dem sich Zuversicht dokumentiert.

Es bleiben zwei Welten, zwei Leben, es bleiben Paradies und Hölle. Aber aus dieser sich ergänzenden Dualität heraus ist hier jemand bereit das Leben zu preisen.

Auszug aus der Laudatio von C. A.

 

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